Für die zweite Phase des russischen Angriffs im Osten des Landes benötigen die Ukrainer schwere Waffen. Die USA haben dies erkannt und geliefert.
Werner J. Marti, Christian Kleeb (Grafik)
Als sich die russische Armee Anfang April von der Region um Kiew zurückzog und ankündigte, im Osten der Ukraine einen neuen Angriff vorzubereiten, öffnete sich ein Zeitfenster von wenigen Wochen, um die ukrainische Armee für die neue Lage auszurüsten. Im Abwehrkampf in den Vororten von Kiew und anderen grossen Städten hatten die Verteidiger mit einfachen Panzer- und Flugabwehrraketen die Russen aufhalten können. Doch der Kampf im offenen Gelände im Osten verlangte nun nach neuen militärischen Mitteln. Insbesondere musste die ukrainische Artillerie, die der russischen zahlenmässig stark unterlegen war, verstärkt werden.
Nur mit Artillerie kann der massive russische Vorstoss im offenen Gelände bekämpft und gegnerische Geschütze mit sogenanntem Konterbatteriefeuer zerstört werden. Die Amerikaner haben dies rechtzeitig erkannt. Während Deutschland, Frankreich und andere europäische Staaten noch die Frage wälzten, ob sie überhaupt schwere Waffen liefern sollten und wie dies logistisch am besten umgesetzt werden könne, waren neunzig modernste gezogene 155-mm-Haubitzen der amerikanischen Armee vom Typ M-777 bereits auf dem Weg in die Ukraine (zehn weitere wurden von Australien und Kanada geliefert).
Ende April trafen die ersten Geschütze in der Ukraine ein. Zuvor hatte in Deutschland auf dem amerikanischen Truppenübungsplatz Grafenwöhr in der Oberpfalz bereits die Ausbildung ukrainischer Spezialisten nach dem Prinzip «train the trainer» begonnen. Die Teilnehmer sollen danach in der Ukraine selbst weitere Artilleristen ausbilden.
Leistungsstarke Spezialgranaten Excalibur
Die Lieferung durch die Amerikaner dient nicht nur dazu, die starke Unterlegenheit der Ukrainer bei der Anzahl Artilleriegeschütze zu verringern. Sie hilft auch gegen den drohenden Munitionsmangel. Der grösste Teil der Artillerie der Ukrainer stammt nämlich noch aus sowjetischer Zeit. Diese Geschütze verwenden Granaten mit einem Durchmesser von 152 mm, während die Nato 155-mm-Munition benützt. Die Granaten für die Geschütze sowjetischer Bauart werden heute aber hauptsächlich noch in Russland hergestellt. Damit ist die Ukraine vom Nachschub abgeschnitten.
Die M-777 erlauben der Ukraine zudem auch die Verwendung von westlicher Spezialmunition, wie beispielsweise präzisionsgelenkten Excalibur-Granaten. Diese werden mithilfe des Global Positioning Systems (GPS) aufs Ziel ausgerichtet. Der Artilleriebeobachter kann sie mit einem Laser ins Ziel lenken, wobei die Steuerung über die am vorderen Ende des Geschosses angebrachten Gleitflügel erfolgt. Dabei wird gleichzeitig eine Verdoppelung der Reichweite von 25 auf rund 50 Kilometer erreicht. In dieser Entfernung kann die Excalibur-Granate ein Punktziel mit einer Genauigkeit von fünf bis zehn Metern treffen.
Weshalb nicht Panzerhaubitzen?
Doch weshalb liefern die USA gezogene Haubitzen statt selbstfahrende Panzerhaubitzen, die seit den 1960er Jahren das Bild moderner Armeen prägen? Die M-777 bot sich als ideales Geschütz zur raschen Ausrüstung der Ukrainer an. Es handelt sich um eines der modernsten Artilleriegeschütze überhaupt. Es wurde 2005 in Dienst gestellt und in Afghanistan erstmals im Kampfeinsatz verwendet. Es gilt als sehr effektive Waffe, die mit hoher Präzision schiesst. Das folgende Video zeigt die Haubitze in der Ukraine im Einsatz:
Ein grosser Vorteil ist das relativ geringe Gewicht von rund 4,2 Tonnen. Die M-777 ist damit 40 Prozent leichter als ihre Vorgängerin M-198. Sie verdankt dies der extensiven Verwendung von Titan bei ihrer Konstruktion. Deshalb ist sie leicht transportierbar und im Gelände sehr mobil. Im Kampfeinsatz wird sie von einem Lastwagen gezogen, der von den Amerikanern mitgeliefert wird. Sie kann auch per Helikopter in ihr Einsatzgebiet geflogen werden.
Ist die M-777 einmal in Stellung, ist sie innerhalb von weniger als drei Minuten schussbereit und kann nach Beendigung des Feuers in zwei bis drei Minuten wieder weggefahren werden. Dies ist von grosser Bedeutung, um sich vor Gegenangriffen der feindlichen Artillerie oder Luftwaffe zu schützen. Denn moderne Artillerie-Radarsysteme können aufgrund der Flugbahnen der Geschosse den Standort der Geschütze bestimmen, welche diese abgeschossen haben. Damit ist eine Artillerieeinheit gefährdet, sobald sie erstmals geschossen hat. Die Amerikaner haben der Ukraine Ende April auch vierzehn solche Radarsysteme geliefert.
Ein Nachteil der M-777 ist hingegen der erwähnte ungenügende Schutz gegen Beschuss durch Flugzeuge und die gegnerische Artillerie. Bei Panzerhaubitzen muss der Einschlag wegen der Panzerung sehr nahe beim Fahrzeug liegen, um ernsthaften Schaden anrichten zu können. Bei den gezogenen Haubitzen hingegen sind insbesondere die Mannschaft und das Zugfahrzeug sehr verletzlich. Ungeschützt sind sie auch, wenn sie sich nahe der Front befinden und plötzlich von den gegnerischen Infanterie- und Panzertruppen überrascht werden.
Panzerhaubitzen können deshalb innerhalb der vorrückenden Panzerverbände eingesetzt werden, während gezogene Haubitzen in der Regel weiter weg von der Front postiert werden. Dadurch wird auch ihre maximale Schussdistanz im Vergleich mit Panzerhaubitzen relativiert. Den Russen ist bei Bachmut in der Ostukraine bereits ein Angriff auf drei M-777 gelungen, allerdings scheint dabei kein grösserer Schaden angerichtet worden zu sein. Ausserdem hat die russische Militärführung am 21.Mai erklärt, sie habe westlich von Kiew bei einem Angriff mit Marschflugkörpern auf ein Lagerhaus M-777-Geschütze zerstört.
Doch hätten die Amerikaner statt der gezogenen Haubitzen ihre Panzerhaubitzen M-109 Paladin geschickt, hätten sie das siebenfache Gewicht über den Atlantik transportieren müssen. Zudem wäre die Logistik wesentlich komplizierter gewesen. Die Panzerhaubitzen sind reparaturanfälliger und brauchen für ihre Verschiebung wesentlich mehr Treibstoff. Für grössere Mengen Munition müssen sie zudem von Munitionstransportern begleitet werden, während die gezogenen Haubitzen Munition auf ihren Zugfahrzeugen transportieren können. Auch die Handhabung der gezogenen Haubitzen ist wesentlich einfacher, ein wichtiger Punkt angesichts dessen, dass die Ukrainer auf den westlichen Artilleriesystemen zuerst einmal ausgebildet werden müssen.
Kriegseinsatz hat erst begonnen
Es ist noch zu früh, um die Wirksamkeit der M-777 im Ukraine-Krieg zu beurteilen. Wie viele Geschütze bereits eingesetzt wurden und wo, ist bis jetzt nicht öffentlich bekannt. Die «New York Times» schreibt, dass die Haubitzen bis zum 22.Mai in der Ukraine insgesamt 1876 Geschosse verschossen haben. Das ist nur ein Bruchteil der mehreren hunderttausend Schuss Munition, welche die USA den Ukrainern liefern.
Wie zerstörerisch Artilleriefeuer sein kann, hat die misslungene Überquerung der Russen über den Fluss Siwerski Donez vom 10.Mai gezeigt. Die Ukrainer hatten richtig antizipiert, wo die Russen versuchen würden, den Fluss zu überqueren. Darauf bereitete die Artillerie der 17.ukrainischen Panzerbrigade das Feuer auf diese Stelle vor.
In dem Moment, als die Russen dabei waren, mit einer ganzen taktischen Battalionsgruppe den Siwerski Donez zu überqueren, lösten die Ukrainer einen massiven Feuerschlag aus. Es wird vermutet, dass dabei mindestens 500 russische Soldaten getötet und über 70 Panzer sowie andere Fahrzeuge zerstört wurden. M-777 dürften daran allerdings noch nicht beteiligt gewesen sein.
Auf jeden Fall aber spielten die Amerikaner mit ihrer raschen Lieferung einer grossen Anzahl von Geschützen einmal mehr eine Schlüsselrolle bei der militärischen Unterstützung der Ukrainer. Inzwischen sollen auch die ersten von zwölf selbstfahrenden französischen Caesar-Geschützen eingetroffen sein. Das sind 155-mm-Haubitzen, die auf Lastwagen montiert, aber nicht gepanzert sind. Doch andere versprochene westliche Artilleriegeschütze – unter anderem moderne deutsche Panzerhaubitzen 2000 und M-109 Paladin – lassen weiter auf sich warten.
In einem Punkt lassen auch die amerikanischen Lieferungen zu wünschen übrig: Ein Computer zur Steigerung der Zielgenauigkeit und Leistungsfähigkeit der Haubitzen wurde nicht mitgeliefert – wohl aus Befürchtung, dass die Geräte in die Hände der Russen fallen. Immerhin hat Washington aber bereits achtzehn weitere M-777 für die Ukraine bewilligt.
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