Mit den Warschauer Juden wurde auch die Erinnerung an die Geschichte ausgelöscht (2024)

Mit den Warschauer Juden wurde auch die Erinnerung an die Geschichte ausgelöscht (1)

Henry Griffin / AP

Im Herbst 1940 errichteten die Deutschen im Warschauer Stadtviertel Muranów das Ghetto. Zeitweise lebten hier 450000 Juden. Ab 1942 begannen die Deportationen ins Vernichtungslager. Der Aufstand im April 1943 wurde von der SS brutal niedergeschlagen.

Martin Sander (Text), Andrea Mittelholzer (Bildredaktion)

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Häuserblöcke mit typischen Fassaden der Stalinära prägen die Nowolipki-Strasse im zentralen Warschauer Stadtviertel Muranów. Auf dem offenen Hof zum Haus Nr. 28/30 liegt eine Glasplatte über einem Erdschacht, der in die Vergangenheit des Viertels führt. Hier befand sich einmal eine jüdische Grundschule. In ihrem Keller überdauerten die Shoah zwei Milchkannen und zehn Metallkisten. Darin hatten Mitarbeiter des Ringelblum-Archivs 1942/43 grosse Teile ihrer heute weltberühmten Sammlung verborgen, die das Leben im Ghetto dokumentiert: Schriftstücke aller Art, Fotos und Kunstwerke.

Emanuel Ringelblum hatte sich als polnischer Historiker jüdischer Herkunft bereits vor dem Zweiten Weltkrieg einen Namen gemacht. Ende Februar 1943 floh er aus dem Ghetto auf die «arische» Seite Warschaus. 1944 wurde er in seiner geheimen Unterkunft entdeckt, verraten und von den Deutschen ermordet.

Die in der Nowolipki-Strasse verborgenen Archivalien grub man nach Kriegsende wieder aus. Seit langem sind sie im Warschauer Jüdischen Historischen Institut untergebracht. Den Erinnerungsort in der Nowolipki-Strasse 28/30 gibt es erst seit 2021. Eine Bürgerinitiative namens Stacja Muranów hat sich dafür viele Jahre eingesetzt.

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Von der Villa zum Ghetto

Muranów hat viele Vergangenheiten. Seine Geschichte begann im 17.Jahrhundert, als der polnische Königshof einen venezianischen Baumeister von der Laguneninsel Murano zu sich holte. Józef Szymon Bellotti prägte die weitere Entwicklung Warschaus. Für sich und seine Familie baute Belotti eine Stadtvilla auf ländlichem Terrain westlich der Altstadt und nannte sie nach seinem Herkunftsort Murano.

Rundherum entwickelte sich der neue Stadtteil Muranów. Im Laufe der Zeit siedelten sich dort immer mehr Juden an. Vor dem Zweiten Weltkrieg, als Juden ein Drittel der Warschauer Einwohnerschaft ausmachten, lebten 80 Prozent von ihnen in Muranów, Arm und Reich eng beieinander.

Im Herbst 1940 richteten die Deutschen in diesem Stadtteil das Warschauer Ghetto ein. Eingepfercht zwischen Mauern, hungernd und im zunehmenden Elend lebten hier zeitweise 450000 Juden. Im Sommer 1942 setzten die grossen Deportationen in das Vernichtungslager Treblinka ein.

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Als am 19.April 1943 der Aufstand ausbrach, wurden die Häuser systematisch von der SS zerstört. Unangetastet liessen die Deutschen am Ende nur die katholische St.-Augustin-Kirche, auf deren 70 Meter hohem Turm sie Scharfschützen postierten.

Am 16.Mai 1943 setzte der verantwortliche SS-Gruppenführer Jürgen Stroop einen – aus seiner Sicht – symbolischen Schlussstrich unter die Existenz des Ghettos und seiner Bewohner. Eigenhändig sprengte er die Grosse Synagoge am Banken-Platz im Südosten von Muranów in die Luft. Der SS-Führer Heinrich Himmler beabsichtigte, seinem Warschauer Handlanger dafür eine Prachtstrasse namens Jürgen-Stroop-Allee in einer künftigen deutschen Gartenstadt zu widmen, geplant auf dem Gelände des zerstörten Ghettos.

Dazu kam es nicht. Jürgen Stroop endete in einem Warschauer Gefängnis und wurde am 6.März 1952 hingerichtet. Zu diesem Zeitpunkt war der polnische Wiederaufbau von Muranów bereits in vollem Gang. Bereits 1948 hatte der Warschauer Architekt Bohdan Lachert im Auftrag des kommunistischen Staates damit begonnen, ein neues Stadtviertel für bis zu 60000 Bewohner auf den Trümmern des Ghettos zu projektieren.

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Der Wiederaufbau des Viertels

Lachert liess aus dem vorgefundenen, gemahlenen Schutt den Stein für seine drei- bis achtgeschossigen Wohnblöcke herstellen. Dem Stadtplaner, der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg als Pionier des Neuen Bauens hervorgetreten war, ging es nicht nur um Sparsamkeit, sondern auch um Symbolik. Das tragisch zerstörte Stadtviertel sollte wie Phönix aus der Asche auferstehen und den kommenden Generationen als Mahnmal dienen.

Dafür wollte Lachert seine Trümmerschuttsteine unverputzt lassen. Das Blut der gemordeten Stadt sollte, so Lachert, seinen Ausdruck in der Architektur finden. Dieser Anspruch blieb unverwirklicht. Denn zu gleicher Zeit verfestigte sich in Polen das stalinistische Dogma vom sozialistischen Realismus auch in der Architektur. Praktische Gründe kamen hinzu. Lacherts Wohnblöcke benötigten dämmende Fassaden, um Heizkosten zu sparen.

Im Übrigen lag der kommunistischen Führung nie wirklich daran, an das Ghetto und die jüdische Geschichte Warschaus zu erinnern. Den neuen Bewohnern von Muranów, die dort seit den frühen 1950er Jahren hinzogen, sei die Vergangenheit des Ortes überwiegend fremd geblieben, erklärt die Schriftstellerin und Muranów-Expertin Beata Chomątowska. Und überlebende polnische Juden hätten damals ohnehin nicht nach Muranów ziehen wollen, erklärt Chomątowska.

Heute, im demokratischen Polen, stellen sich alte Fragen neu. Eleonora Bergman, Architekturhistorikerin und ehemalige Leiterin des Jüdischen Historischen Instituts, findet es pietätlos und geradezu anstössig, dass man die Toten unter den Trümmern des Ghettos nach Kriegsende nicht systematisch exhumiert, sondern mit grosser Wahrscheinlichkeit auch Knochen zu Baumaterial verarbeitet hatte.

Seit mittlerweile drei Jahrzehnten bemüht man sich in Warschau intensiv darum, die Geschichte des Ghettos dem Vergessen zu entreissen. Eleonora Bergman und andere konnten sich 2008 mit der Idee durchsetzen, die Grenzlinien des Ghettos durch Platten aus Beton und Metall im Boden sichtbar zu machen. Ein für Muranów zentraler Erinnerungsort ist das 2013 eröffnete Museum der Geschichte der polnischen Juden (Polin).

Zusammen mit dem Denkmal für die Helden des Ghettoaufstands, vor dem 1970 Willy Brandt als deutscher Bundeskanzler kniete, zieht das Polin-Museum Millionen von Besuchern aus aller Welt an. Auch mit dem Leben und Sterben im Warschauer Ghetto beschäftigt sich die Dauerausstellung zu tausend Jahren jüdischer Geschichte in Polen. Authentische Artefakte kommen allerdings kaum vor. Die Museumsleute setzen auf multimediale Inszenierungen des historischen Geschehens.

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Daran stösst sich der Autor und Filmproduzent Jakub Duszyński, der selbst aus einer polnisch-jüdischen Familie stammt. Duszyński war beruflich jahrelang in der Zamenhofa-Strasse mitten in Muranów tätig. Wenn dort Arbeiter Kanalrohre reparierten oder auch nur starker Regen fiel, seien regelmässig Reste früheren Lebens aufgetaucht: Scherben, Teile von verrosteten Bettrahmen, Knochen. Duszyński hat vieles gesammelt und für sich so eine Archäologie des Ghettos begründet.

Ein Baum trägt Früchte

Ihm schwebt die Wiederherstellung von wenigstens einem der zahllosen verschütteten Keller unter Bohdan Lacherts Nachkriegssiedlung vor. Die Besucher würden an Handwagen, Fahrrädern und Kohlenvorräten vorbeigehen und so einen annähernd authentischen Eindruck von einem Leben gewinnen, das auf so grausame Weise zerstört wurde. Duszyński schätzt das Polin-Museum hoch, glaubt aber, dass es zu wenig materielle Spuren jüdischen Lebens in Warschau gibt.

Unweit des Polin-Museums haben Unbekannte unlängst einen stummen Zeugen der Zeit beseitigt. Sie haben am Rande von Lacherts Siedlung einen Baum gefällt, nicht irgendeinen, sondern einen Mirabellenbaum, der dort schon zu Zeiten des Ghettos stand. Die Erzählerin Hanna Krall und andere polnische Autoren haben ihn literarisch verewigt. Der Baum ist fort, doch ein amerikanischer Jude hatte zuvor einen Zweig dieses Baumes mitgenommen und daraus in seinem Washingtoner Garten einen neuen Baum gezüchtet.

Aus einem amerikanischen Steckling haben Aktivisten der Bürgerinitiative Stacja Muranów dann mithilfe von Experten wieder einen Baum in Muranów gezogen. Er wächst auf dem Grünstreifen an der General-Anders-Strasse und nahe jener Stelle, von der aus die Deutschen am 19.April 1943 ins Ghetto eindrangen, um es endgültig zu zerstören. Die neue, alte Mirabelle hat vor einem Jahr erstmals Früchte getragen.

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